Bindungstraumata entstehen in der Kindheit. Verlust- und Trennungserfahrungen, Gewalt, ambivalentes oder abwertendes Verhalten der Eltern, usw. ziehen unsichere Bindungen nach sich. Die Folgen sind vielfältig und belastend. Aber es ist möglich, auch als erwachsener Mensch zu lernen, wie sichere Bindungen gehen. Und damit ein Bindungstrauma zu überwinden.
Inhaltsverzeichnis:
Was ist ein Bindungstrauma?
Menschen mit einem Bindungstrauma erleben die Welt als unsicheren Ort. Andere Menschen werden zuallererst als mögliche Gefahr wahr genommen. Irgendwie ist es so, als ob du dich dauerhaft im Feindesland befindest und dich schützen musst. Das ist über Jahre und Jahrzehnte natürlich sehr anstrengend. So entsteht mit der Zeit eine unsichtbare Wand zwischen dir selbst und den Mitmenschen.
Die Schriftstellerin Marlen Haushofer beschreibt dieses Gefühl übrigens sehr gut in ihrem Buch "Die Wand". Die Protagonistin befindet sich auf einer Hütte in den Bergen und findet heraus, das wohl ein Unglück geschehen sein muss. Eine unsichtbare Wand hindert sie daran, ins Tal zu kommen. Mit einem Fernglas sieht sie zusätzlich, dass die Menschen auf der anderen Seite wie im Tode erstarrt wirken. Man kann sich gut vorstellen, wie alleine sie sich fühlen muss.
Diese unsichtbare Wand schützt also vor den als unsicher erlebten Menschen, erzeugt aber gleichzeitig ein Gefühl der Isolierung und Einsamkeit.
Weitere Symptome eines Bindungstraumas können sein:
Angst vor Nähe - Sehnen nach Kontakt
Selbstabwertung und Selbstzweifel
Dissoziationen (inneres "Weggehen")
starke Unsicherheitsgefühle in sozialen Kontakten
Schüchternheit
schlechte Selbstwahrnehmung
Tendenz zur Unterordnung
"Helfer-Syndrom"
innere Unruhe
Schlafstörungen
Beziehungsprobleme
Trennungs- und Verlustängste
und darüber hinaus: Depressionen, Angststörungen, Zwänge, Süchte, usw.
Wie entsteht ein Bindungstrauma?
Alles fängt an mit der Beziehung zu den Eltern. Babys brauchen ihre Eltern. Das bestreitet sicher niemand. Das Babys die Eltern aber nicht nur für die körperliche Versorgung brauchen, sondern auch existentiell für die psychische Versorgung, ist nicht so bekannt.
Deutlich wurde das schon um das Jahr 1200. Friedrich II., römischer Kaiser und deutscher König startete zu dieser Zeit ein fatales Experiment. Er wollte wissen, welche Sprache Kinder sprechen, wenn man ihnen keine Sprache beibringt. Weiter noch: wenn man sie komplett ohne Zuneigung aufwachsen lässt. Er gab den Betreuerinnen in einem Waisenhaus eine Order. Sie sollten die Neugeborenen nur mit Nahrung versorgen und säubern. Nicht mehr. Leider starben alle Kinder. Und so erfuhr man zwar nichts über eine Ursprungssprache - aber es wurde deutlich, dass Säuglinge ohne Nähe und Geborgenheit nicht überleben können.
In der Schwangerschaft ist das Kind sicher mit der Mutter verbunden. Von außen droht keine Gefahr. Nach der Geburt braucht es eine neue Art der Verbindung, die jetzt aktiver sein muss. Wenn jetzt die Eltern adäquat auf das Kind reagieren, lernt es, dass die Welt ein sicherer Ort ist. Es spürt eine Bindung zu den Eltern, die es später auf andere Menschen übertragen wird.
Bei einem Bindungstrauma werden die Eltern aber nicht als sicher empfunden.
Das kann bei schwerwiegenden Ereignisse wie Vernachlässigung und körperlicher und/oder sexueller Gewalt der Fall sein. Die Bindung ist ebenso gestört, wenn ein Elternteil früh verstirbt oder die Familie verlässt.
Aber auch scheinbar kleinere Ereignisse können zu Bindungstraumata führen: wenn zum Beispiel eine Mutter große Ängste hat, das Kind nicht richtig zu behandeln. Diese Unsicherheit überträgt sich auf das Kind und eine unsichere Bindung zwischen Mutter und Kind entsteht.
Ebenso schwierig ist es, wenn Mutter oder Vater selbst sehr bedürftig sind. Hier wird die Verantwortung für die Beziehung auf das Kind übertragen. Es wird zum Elternteil für die tatsächlichen Eltern gemacht. Das nennt man Parentifizierung.
Auch narzißtische Eltern, die eigene Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und das Kind abwerten, erzeugen ein Bindungstrauma.
Folge: Bindungsstörung
Folge eines solchen Bindungstraumas ist die Bindungsstörung. Wobei Störung hier eigentlich der falsche Begriff ist. Ein Kind hat eine sehr lange Abhängigkeitszeit von den Eltern. Daher verhält es sich automatisch so, dass die Beziehung so gut wie möglich ist. Das ist von der Natur so angelegt. So sorgt es selbst dafür, die Versorgung und das Nest möglichst zu behalten. Es passt sich an die Störung der Eltern an.
Ein Beispiel, um das besser zu verstehen: Eine Mutter verhält sich sehr ambivalent ihrer kleinen, 5-jährigen Tochter (nennen wir sie Lina) gegenüber. Manchmal ist sie Lina sehr zugewandt und verständnisvoll, lobt sie, hat Zeit und hört zu. Und manchmal ist sie ungeduldig und schnell wütend, bestraft das Kind und wertet es mit Worten ab. Lina weiß nicht, dass ihre Mutter das tut, weil sie sehr unsicher ist. Dass sie hohe Erwartungen an sich selbst hat und daher oft überfordert ist. Sie glaubt, dass sie in den Momenten, in denen die Mutter wütend ist, etwas falsch macht. Lina ist aber noch so klein und könnte alleine nicht überleben. Und so hat sich die Natur etwas ausgedacht, um Lina zu schützen. Unbewusst bildet sie "Antennen" aus, um genau mit zu bekommen, wie es der Mutter gerade geht. Und wie Lina sich verhalten sollte, damit sie sich möglichst nicht aufregt. Lina stellt ihre Bedürfnisse zurück und erzählt allenfalls von positiven Dingen, die sie erlebt hat. Wenn überhaupt. Verhält sie sich "falsch" oder erzählt sie "das Falsche", bekommt sie ein schlechtes Gewissen. Sie übernimmt die alleinige Verantwortung für die Beziehung, um die Mutter zu stabilisieren. Damit diese sie wiederum so gut versorgt, wie nur irgendwie möglich.
Wie ein Bindungstrauma die Beziehung beeinflusst
In deiner Kindheit macht es unter diesen Umständen Sinn, sich an die Störung deiner Eltern anzupassen. Im späteren erwachsenen Leben hindert es dich daran, eine gute, gleichwertige Beziehung aufzubauen. Ein Vertrauensproblem ist entstanden.
Hierbei sind zwei unterschiedliche Ausprägungen möglich: möglichst viel emotionaler Abstand oder das Bedürfnis nach ständiger Versicherung, geliebt zu werden. Je nachdem, welche Strategie für dich selbst als Kind sinnvoller erschien: dich unsichtbar machen oder ganz besonders lieb und zuvorkommend sein.
Vermeidung von Nähe:
Das Mädchen aus unserem Beispiel wird sich später als Frau zu Partnern hingezogen fühlen, die sie nicht wertschätzen. Oder die nicht greifbar sind. Das könnte zum Beispiel ein verheirateter Partner oder Partnerin sein, der/die sich nicht trennen will. Einfach deshalb, weil sie es in ihrer Kindheit als normal wahrgenommen hat, dass ihre Bedürfnisse nicht zählen. Oder sie wird sich nicht öffnen, keine wirkliche Nähe zulassen können. Oder vielleicht sogar beschließen, dass das Leben alleine doch viel besser ist. Alles, um zu vermeiden, wieder verletzt zu werden.
Unbändige Sehnsucht nach Nähe:
Hier wird sie sich der Liebe des Partners oder der Partnerin nie sicher sein und ständige Liebesbeweise brauchen: "Liebst du mich noch? Ist das okay, wenn ich xy mache? Oder willst du das lieber anders haben? Was habe ich falsch gemacht? Entscheide du, was richtig ist." Sie glaubt dem Partner, der Partnerin nicht, wenn er/sie Liebe zeigt. Sie hält sich selbst für nicht liebenswert. Aber es fühlt sich gut an, wenn er/sie es sagt. Wie eine Salbe auf einer offenen Wunde. Man wird abhängig davon.
Eine sichere Bindung kann man lernen
Bindungsverhalten kann man nur im Zusammenhang mit einem Gegenüber lernen beziehungsweise verändern. In der Kindheit war es eine Reaktion auf die Eltern. Jetzt braucht es eine Person, die bereit und in der Lage ist, wirklich in Beziehung zu gehen. Diese andere Person kann ein/e Beziehungspartner/in oder ein Therapeut sein.
So oder so ist es wichtig, dass die Ängste ganz langsam an die Oberfläche treten dürfen. Und zwar ohne, dass der bindungstraumatisierte Mensch den Boden unter den Füßen verliert. Es braucht eine Meta-Ebene. Von dieser kann das im Jetzt Geschehene neutraler und unemotionaler betrachtet werden. Und dann neu bewertet.
Wie geht das?
1) Neubewertung
Bei einem Bindungstrauma, das sich in aktuellen Beziehungen zeigt, schaut man meist nur auf die akute Situation. Du fühlst dich VOM PARTNER nicht genug gesehen, VOM PARTNER ungerecht behandelt, VOM PARTNER genervt. Manchmal fragst du dich vielleicht noch, wieso du um Himmels Willen so überreagierst. Warum du so gekränkt bist, so wütend, wo dein Partner doch gar nichts so furchtbares gemacht hat. Du merkst gar nicht, dass das aktuelle Gefühl vom Verhalten deines Partners / deiner Partnerin nur ausgelöst wurde. Die Ursache liegt aber in deiner eigenen Kindheit. Du wirst angetriggert und reagierst eigentlich auf das Verhalten deiner Eltern.
Zum Teil suchst du dir tatsächlich einen Partner, der/die dich genauso wenig beachtet wie die Eltern. Zum Teil befürchtest du es aber auch "nur". Und du reagierst schon auf die kleinsten Anzeichen in diese Richtung heftig.
2) Sich selbst eine gute Mutter oder ein guter Vater sein
Weißt du, dass du angetriggert wurdest, braucht es eine Blickveränderung. Das akute Thema mit dem Partner sollte erstmal "bei Seite gestellt" werden. Vorrang hat, dir selbst zu helfen und eine bessere Beziehung zu dir selbst zu entwickeln.
Zum Beispiel im Rahmen unseres Seminars "Wie geht eigentlich Beziehung?" oder bei einer Woche "Urlaub und Therapie" bei uns im "grauen Haus am Meer". Hier kannst du lernen, dieses einsame und verletzte Kind von damals, dein Inneres verletztes Kind, wahr zu nehmen. Und für es da zu sein statt immer zu hoffen, dass dein Gegenüber die benötigte Aufmerksamkeit gibt. Du kannst lernen, dich selbst zu beschützen und auch Vertrauen zu anderen Menschen zu entwickeln - statt dich schnell hilflos zu fühlen und dich zurück zu ziehen oder wütend zu werden.
Kann das geschehen, kannstv du anders auf die akute Situation schauen und die Beziehungsdynamiken wirklich erkennen. "Habe ich mir einen Partner ausgesucht, der/die sich genauso oder ähnlich verhält wie meine Eltern? Oder ist das meine Befürchtung und ich verhalte mich so, als ob er/sie meine Eltern wäre?"
3) Arbeit mit dem Unbewussten
Beziehungstraumata sind tief verankert. Zum Teil liegt der Beginn sogar schon in der vorsprachlichen Zeit. Um hier einen guten Zugang zu sich zu bekommen, arbeite ich gerne mit sogenannten nonverbalen Methoden. Das sind zum Beispiel Kunsttherapie und Meditation. Mit "nonverbal" ist hier nicht gemeint, dass man gar nicht spricht. (Innere) Bilder stehen aber im Vordergrund.
Beispielsweise in der Kunsttherapie ist es möglich, dass du deinem Inneren Kind etwas geben kannst. Etwas, was es noch nie oder kaum bekommen hat: Zuwendung, Liebe und Verständnis. Und das wirkt wiederum auf dich als Erwachsene/r zurück und verändert dich auf tieferer Ebene.
Vera Arnold
Vor fast 20 Jahren begegnete mir ein Satz auf einem Plakat in einer vollen Berliner U-Bahn: "Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag" (Charlie Chaplin).
Der begleitet mich seither und ist ein Grund, warum ich Traumatherapeutin geworden bin.
Erfahre mehr über mich.
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